Kann weniger Drehmoment mehr Fahrspaß bedeuten? Dass behaupten zumindest die Hersteller von Light-Assist Motoren und Light-E-Bikes. Wie etwa TQ mit dem TQ HPR50 (50 Nm), Fazua mit dem Ride 60 (60 Nm) und auch Orbea, die den Medium-Assist-Motor Shimano EP8RS (65 Nm) verbauen. Nun auch Bosch. Mit einem 600 Watt starken Zusatzargument beim Performance Line SX.
Light-Assist: Weniger Gewicht, mehr Agilität
Das entscheidende Argument für Light-Assist ist zunächst ja das Systemgewicht: Motor und Akku bringen bei den Light-Assist-Antrieben zusammen Gewichtseinsparungen. Im Vergleich zu den 85Nm-plus Motoren und Akkugrößen von 750 Wh oder mehr bringen sie Gewichtseinsparungen von 3 bis 7 Kilogramm. Eine Rolle fürs E-Bike Gesamtgewicht spielen auch die durch die Light-Assist-Antrieben möglich kompakteren und leichteren Rahmen.
Die Light-Assist-Antriebe eignen sich dabei für EMTBs, für E-Gravel und E-Urban Bikes. Besonders für sportliche Fahrer:innen, die „nicht einfach den Berg hoch geschoben“ werden möchten und denen Handling und Agilität eines E-Bikes wichtiger sind als die maximale Unterstützung und maximale Reichweite.
In vielen „leichten“ EMTB, E-Gravel- und E-Urban Bikes des Modelljahrs 2024 finden sich die Motoren, und sie werden von sportlich orientierten Fahrer:innen und Redaktionen in Tests schon gefeiert.
Weniger Drehmoment ≠ weniger Leistung
Zusätzlich zum Gewicht bringt Bosch wie oben angedeutet ein weiteres Argument ins Spiel.
Nämlich mit der Auslegung des neuen Bosch Performance Line SX Motors: Bosch demonstriert, dass weniger Drehmoment nicht weniger Leistung bedeuten muss!
Mit maximal „nur“ 55 Nm Drehmoment, aber 600 Watt elektrischer Maximalleistung (wie der große Bruder CX) sprengt der Bosch SX das bisher gewohnte Bewertungsschema von E-Bike-Motoren.
Denn: Der Vergleich von E-Bike-Motoren rein nach ihrer Drehmomentstärke macht seit dem SX Motor keinen Sinn mehr. Wir müssen die gesamte Leistungscharakteristik ansehen, die sich aus dem Drehmoment und der Trittfrequenz ergibt. Dazu unten auch Beispiele.
Neuartige Leistungscharakteristik beim Bosch SX
Bosch hat also für den SX Motor eine bislang E-Bike-untypische Leistungscharakteristik entwickelt. Etwa vergleichbar mit Rennwagen-Motoren (Verbrennern) ruft der SX seine maximale Leistung nämlich vorwiegend bei hohen „Drehzahlen“ ab – also hoher Trittfrequenz.
Nach der Physik-Formel Leistung = Drehmoment x Winkelgeschwindigkeit kann die Leistung bei kleineren Drehmomenten insgesamt genauso groß ausfallen wie bei größeren, wenn dafür die Winkelgeschwindigkeit (beim E-Bike-Motor durch die Trittfrequenz) entsprechend vergrößert wird.
Die Maximalleistung des Motors von 600 Watt wird beim SX stärker über die Drehzahl als über das Drehmoment erreicht. Der SX erreicht mit hohen Trittfrequenzen ab etwa 110 bis 130 U/min die gleiche maximale Leistung wie die größeren Bosch Motoren – zumindest phasenweise. Auch mit 340% Fahrer-Unterstützung liegt der SX gleichauf mit seinen CX-Brüdern.
Mit 300 W/kg bei 2,05 kg Gewicht hat er auch das beste Leistungsgewicht aller Pedelec-Motoren überhaupt. Der SX baut auch schmaler als die anderen Bosch Motoren.
Smarte, KI-unterstützte Leistungsabgabe
Für diese neuartige Motorabstimmung setzt Bosch auch auf KI – in Form lernfähiger Elektronik und Motorsteuerung im SX. Die Leistungsanforderung an den Motor wird jeweils aus der Fahrcharaktersistik und der aktuellen Fahrsituation abgeleitet:
Nur wenn Drehmoment und Trittfrequenz über einen Durchschnittswert hochschnellen, wird von der Elektronik der „Turbo“ bis zur maximalen Unterstützung gezündet. Das haben Prüfstandmessungen und Tests von Velomotion und Bike-Magazin mit dem Bosch SX bestätigt (siehe Quellen unten).
In der Praxis passiert das unmerklich – wie ein erweiterter Automatik- oder E-MTB-Modus. Als Fahrer musst du keinen Boost-Knopf drücken wie bei TQ und Fazua, sondern holst dir die volle Kraft über entschiedenen Pedaldruck und erhöhte Trittfrequenz.
Die höhere Leistung setzt geschmeidig ein und bleibt kurzzeitig vorhanden, unterstützt dich spürbar an steilen oder schwierigen Stellen und regelt dann nach einigen Sekunden wieder soft herunter.
Boschs Philosophie beim SX Motor
Welche Philosophie Bosch bei seiner Light-Assist-Strategie verfolgt, zeigt eine Aussage von Bosch CEO Claus Fleischer im Interview mit dem Bike-Magazin (Quelle siehe unten). Er spricht vom
„Spannungsdreieck Fahrperformance, optimiertes Derating-Verhalten und maximale Reichweite mit kleinem Akku.“
Daraus folgt für Bosch die Maxime, dass der Motor (wieder CEO Fleischer)
„den Fahrer*innen das maximale Drehmoment beziehungsweise die maximale Leistung immer genau dann zur Verfügung stellt, wenn es auch wirklich gebraucht wird.„
Sprich: Der Motor versucht, diese drei Parameter optimal unter einen Hut zu bringen:
- Fahrperformance (möglichst hohe Leistung)
- Derating-Verhalten (softes Zu- und Abregeln der Maximalleistung, Motorschutz gegen Überbelastung)
- maximale Reichweite (Effizienz – minimierter Akkuverbrauch)
Die volle Leistung wird wie gesagt nicht lange abgegeben. Dass der Motor die Leistung wieder drosselt, ist schon nach einigen Sekunden spürbar. Bei längeren Steilstücken oder technischen Klettereien, so das Bike-Magazin, fühlt man sich auch ganz von der KI im Stich gelassen – dann ist auch wieder maximale eigene Kraft gefragt, dann kommen nur noch 30-40 Nm Drehmoment vom Motor.
Fahrsituationen, Leistung, Drehmoment: Beispiele zum SX
Ein paar Fahrsituationen als Beispiele zur Veranschaulichung (nach der Leistungsvergleichstabelle beim Bike-Test):
- Ohne besonderen Krafteinsatz des Fahrers und unterhalb von 70 U/min Trittfrequenz „chillt“ der Motor mit wenig Leistung und knapp 40 Nm bis 50 Nm Drehmoment vor sich hin.
- Bei niedrigen Drehzahlen bis 40 U/min und höherem Krafteinsatz liegt der Bosch SX in der Leistung leicht über dem Level des Specialized SL 1.2 und etwa 20-30% unter dem Fazua Ride 60, das Drehmoment bleibt bei 40-50 Nm
- Ab etwa 45 bis 70 U/Min und hohem Krafteinsatz hängt der SX den Specialized SL 1.2 ab und bleibt etwa 10-15% unter dem Fazua Ride 60 mit Boost, dabei liefert er 40 – 55 Nm Drehmoment
- Ab 70 U/min mit hohem Krafteinsatz liegt der SX über dem Ride 60 ohne Boost; das Drehmoment bei 55 Nm.
- Ab 90 U/min mit hohem Krafteinsatz überholt der SX den Ride 60 auch mit dessen Boost
- Ab 110 U/min liegt der SX ca. 10% über dem Ride 60 mit Boost und erreicht fast den Leistungsoutput des Bosch CX, das Drehmoment sinkt bei der hohen Leistung ab etwa 100 U/min in Richtung 40 Nm
Soweit ich sehe, nutzt Bosch noch einen weiteren „Trick“: Der Elektroantrieb selbst dreht intern mit der halben Drehzahl gegenüber den Performance Line CX Modellen. Die halbe Drehzahl wird dann erst via Übersetzung Richtung Antrieb verdoppelt. Das kommt auch dem Motorgeräusch zugute, und wirkt sich wohl auch positiv auf die Standfestigkeit und die Hitzeentwicklung aus.
Und auf die Effektivität: Durch das geringere Drehmoment fließen zunächst auch geringere Stromstärken durch den Motor. Der SX kann also im flacheren Gelände bei weniger Unterstützungsanforderung Energie- und Akku-sparend für Vortrieb sorgen.
Auch die Zahngeometrie und Zahnoberflächen der Zahnräder im Getriebe wurden dazu optimiert.
Zusammenfassung: SX Charakteristik
Beim Anfahren und Beschleunigen bis 25 km/h benötigen wir vom E-Bike-Motor selten das volle Drehmoment des Motors. Bosch beschreibt die Unterstützung beim Anfahren beim SX entsprechend als „feinfühlig“, gegenüber „sehr sportlich“ als Adjektiv zum Schub des Performance Line CX. Hier spart der SX Akkupower.
Der Performance Line SX „schiebt“ euch nicht an, aber unterstützt euch. Bei geringen bis mittleren Trittfrequenzen bringt er sogar weniger Vortrieb als die Light-Motoren von TQ und Fazua. In der Leistungsspitze liegt er dann darüber.
Von chillig bis energisch
Nach Prüfstandmessungen des Bike-Magazins mit dem SX verläuft die Leistungskurve recht linear zur Trittfrequenz. Erst bei ca. 90 U/min überholt der SX den Fazua in der Leistung. Gleichzeitig könnt ihr die Leistung über mehr Pedaldruck erhöhen. Mit überdurchschnittlichem Pedaldruck und erhöhter Trittfrequenz erreicht der SX ab etwa 110 Nm fast die Werte vom CX-Motor.
Wird also höhere Leistung verlangt – etwa im Gelände, an Steigungen – kann der Fahrer die Leistung vom SX-Motor durch Steigerung von Pedaldruck und Trittfrequenz bis hinauf zu 130 U/min bis 600 Watt abrufen – bis die Motorsteuerung nach einigen Sekunden herunterreguliert. Dann braucht das Light-EMTB wieder die Leistung des Fahrers.
Bosch Performance Line SX: Leistungsstärkster Light-Assist-Motor
Tatsächlich bringt der Bosch Performance Line SX als Light-Assist-Motor mit 600 Watt kurzzeitiger Spitzenleistung bei hoher Drehzahl – sprich hoher Trittfrequenz – kurzzeitig viel mehr Power aufs Hinterrad als seine Light-Assist-Mitbewerber.
Manuel Küspert von M1 Sporttechnik, den wir interviewt haben, hat den prinzipiellen Unterschied zwischen klassischen und Light-Assist-Motoren verglichen mit dem Unterschied zwischen Diesel- und Benzinmotoren beim Auto:
Ein drehzahlfreudiger Benziner kann bei kleinerem Hubraum durchaus die gleiche Leistung (PS, kw) generieren wie ein hubraumgrößerer Diesel sie von untenraus bringt. Der drehzahlfreudige Benziner ist in diesem Fall der Bosch Performance Line SX, der hubraumstarke Diesel etwa seine konventionellen Markengeschwister wie der Bosch Performance Line CX.
Natürlich will ein drehzahlfreudiger Motor wie bei Ferrari oder eben der Bosch SX sportlich gefahren werden – das heißt keineswegs schaltfaul. Um mit der höchsten Leistung unterstützt zu werden, müsst ihr bei diesem Antrieb fleißig die Gänge eurer Kettenschaltung wechseln. Das macht der Sportwagenpilot genauso.
Das Schalten gehört zur Philosophie der hochdrehenden Motoren dazu, und zum Spaß daran.
Unsere ersten Kilometer mit dem Bosch Performance Line SX
Wir konnten vor kurzem zwei M1 E-Bikes mit dem Bosch Performance Line SX zu einem Test fahren: Das Trail-Modell M1.CC.400.sx und das Touren-Modell M1.GT.400.sx. Die Route (auf Komoot) führte zunächst von Weyarn runter zur Mangfall, dort entlang und am Taubenberg entlang zurück via Oberdarching – mit 260 Höhenmeter insgesamt. Eine ähnliche Runde war ich mit dem M1 Spitzing Evolution mit dem TQHPR120 schon mal gefahren (Testbericht zum M1 Spitzing Evo).
Die beiden M1-Bikes rollten sehr gut, der Motor unterstützt sanft solange es eben auf dem Wald- und Schotterweg dahin geht. Kein Vergleich mit dem Schub, mit dem das M1 Spitzing vorangetrieben hatte – aber mehr ist hier auch nicht nötig. Die Bikes lassen sich flowig, chillig fahren. Wir waren meist mit der Unterstützungsstufe „E-MTB Modus“ des Smart Systems unterwegs,
Erster Härtefall: Mein Begleiter Armin rollt eine steile Wiese runter um dann über einen Wiesenpfad wieder hochfahren, nur wenige Höhenmeter, aber doch feucht und steil: Die Unterstützung des SX kommt tatsächlich mit erhöhter Trittfrequenz, die M1 Geometrie und die Geländereifen tun das ihre – Armin kommt problemlos hoch.
Erfahrungen bergauf
Auf dem Rückweg oberhalb der Mangfall an den Ausläufern des Taubenbergs entlang ging es dann zur Sache. Längere lockere und feuchte Anstiege über Schotter, Waldboden, Wurzeln und Gras mit teils 15% Steigung. Wir kamen ins Schwitzen, trotzdem hat der SX uns hochgefahren und hat sich dabei geschmeidig der geforderten Leistung angepasst. Einen richtigen „Leistungseinbruch“ etwa durch das Runterregulieren nach einigen Sekunden konnte ich nicht wirklich spüren.
Mein Freund Armin, 30 Kilo schwerer als ich, aber eigentlich fitter, hatte es schon etwas schwerer mit dem SX. Es ist wohl auch eine Frage von Gewicht und Kraft, ob der SX zu euch passt.
Wirklich steile Anstiege über Wurzeln, Stufen oder Felsen, wo wir nur niedrige Trittfrequenzen fahren konnten, gab es nicht auf unserer Stecke. Hier „kommt nur wenig Schub“ – stellte das Bike-Magazin fest. Weiter: „Egal, wie fest man reintritt„.
Das sind dann Momente, wo der und die wirklich sportliche Fahrer:in die Muskeln und den Ehrgeiz spielen lassen darf …
Ähnlich dürfte es übrigens bei längeren Anstiegen wie etwa Pass-Straßen sein. Aber dazu wird es sicher bald weitere Tests mit dem spannenden SX Motorkonzept geben.
Ob der leistungsstarke kleine Bosch SX Motor für die gleichen guten Erfahrungen mit der Lebensdauer sorgen kann wie seine Brüder Active Line, Performance Line und Performance Line CX wird sich noch zeigen müssen.
Einen weiteren Fahrbericht zum Bosch SX findet ihr im Artikel über das Coboc Skye mit Bosch SX.
Quellen
- vit:Bikes Video – Interview mit M1 Sporttechnik
- Bosch SX Produktseite
- Velomotion YouTube SX Prüfstandtest
- Bike-Magazin SX Besprechung und Test
- Bosch Performance Line SX [E-Bike Motor Talk]
- Bosch Performance Line CX [E-Bike Motor Talk]
- Energie-Lexikon Drehmoment
- Eigener Fahrbericht (folgt)
- Fahrbericht zum M1 CC.400.sx und M1 GT.400.SX (folgt)